Dieter Nuhr – Woanders ist überall

Dieter Nuhr – Woanders ist überall

Wir alle kennen das: „Mach ich gleich.“
„Irgendwann.“ „Woanders ist sicher auch schön!“ Diese Worte sind die sanften Begleiter all der Pläne, die nie so ganz Wirklichkeit werden. Doch wo andere nur verträumt an „irgendwo da draußen“ denken, macht Dieter Nuhr ernst – und bringt uns mit „Woanders ist überall“ einen Blick auf das Unbekannte, das immer in unserer Nähe liegt. Seine Ausstellung feiert die Faszination des Woanders, ob im Ruhrgebiet oder in fernen Ländern, und lädt uns ein, diesen zauberhaften Ort zwischen „gleich“ und „später“ doch einmal wirklich zu betreten.

Er ist der Meister des trockenen Humors, der Schelm mit dem scharfen Verstand und die Stimme, die selbst den kleinsten Alltagsproblemen die Maske vom Gesicht reißt – Dieter Nuhr. Kein Thema ist vor ihm sicher, kein Klischee unberührt, und wenn er loslegt, bleibt meist kein Auge trocken. Doch Nuhr ist auch ein Künstler, dessen Werke – wie sein Humor – die Dinge auf die Spitze treiben. Oftmals nicht unumstritten, eckt er mit seinen scharfzüngigen Analysen und ungeschönten Beobachtungen regelmäßig an. Anfeindungen sind für ihn keine Seltenheit, doch Nuhr bleibt gelassen und zeigt, dass Lachen und Provokation manchmal die besten Antworten sind. Im Interview erzählt er uns, wie ihm in einer Welt voller Empfindlichkeiten und Grenzen die Ideen niemals ausgehen. Seine Werke, die zwischen Fotografie und digitaler Verfremdung changieren, stellen oft das Vertraute auf den Kopf, Landschaften und Brücken werden dabei zu wiederkehrenden Motiven seiner Kunst: Sie verbinden scheinbar Gegensätzliches und stehen für Begegnungen, die gleichermaßen faszinieren und irritieren. Nuhr lädt uns ein, genau hinzusehen – ob auf seine Kunst oder die Absurditäten des Alltags. Ob er die kleinen Eigenheiten seiner Mitmenschen aufs Korn nimmt oder die großen Themen unserer Zeit entlarvt – Nuhr bringt die Dinge mit Schärfe und Präzision auf den Punkt und mit seinen Bildern lässt er uns träumen. Wir sind bereit für Nuhrs Blick auf die Welt, wo „Woanders“ zu einem lebendigen Ort wird, und trafen ihn im Bayerischen Nationalmuseum in München zu einem Gespräch.


Lieber Herr Nuhr, man sagt: „Kunst kommt von Können“. Was war denn zuerst da bei Ihnen, das Können oder die Kunst? Ich weiß gar nicht ob das stimmt, dass Kunst von Können kommt, ehrlich gesagt. Kunst sollte schon können, was sie tut. Das ist auch wichtig. Aber das, was man tun will, sollte man nicht dadurch beschränken, dass man etwas nicht kann, sagen wir mal so. Und ich habe Kunst studiert und gemalt, eigentlich seit ich denken kann.

Und wann genau hat das angefangen, mit dem Denken?Das ist eine schwierige Sache. Viele behaupten ja, dass sie denken können und es haut nicht hin. Aber ich habe auf jeden Fall schon als Jugendlicher gemalt und bin dann Kunststudent gewesen und das immerhin auch 17 Semester lang und habe eigentlich mein Leben lang Kunst gemacht.

Wie sah denn das erste Bild aus? War es Fotografie?Ich habe Malerei studiert und irgendwann war mir die Malerei ein bisschen zu eng. Anfang der 90er Jahre malten alle und die Bilder waren groß und man benutzte fette Pinsel und alles sah eigentlich gut aus, auf einer großen Leinwand, wenn man richtig Schwung genommen hat. Das war mir dann ein bisschen zu wenig und ich wollte objektive Bilder haben. Ich wollte etwas Objektives aus der Welt rausziehen und dann bin ich natürlich notgedrungen auf Fotografie gekommen. Und Fotografie bildet ja doch dann recht objektiv ab, was da ist.

Ich habe aber erst mal mit Lochbildkameras gearbeitet und habe auf die Linsen verzichtet, dadurch wird das Bild so ein bisschen scharf aber auch ein bisschen unscharf. Dann hatte ich bunte Farbfeldbilder, bin dann auf Reisen gewesen und die Bilder wurden notgedrungen immer dokumentarischer. Und gleichzeitig entfremden sie sich aber jetzt wieder von der Realität durch die Rückkehr der Malerei in die Bilder.

Wie lange hat es gedauert, diesen Stil zu entwickeln?
Diesen Stil gibt es eigentlich überhaupt erst seit der Corona-Zeit, das war insofern eine glückliche Fügung. Ich habe immer objektive Fotos nach Hause gebracht, das heißt sehr sachliche Fotos.

Dann kam die Corona-Zeit und ich konnte nicht mehr reisen und ich habe angefangen mit meinem Archiv zu arbeiten, und habe festgestellt, dass ich unfassbar viele Landschaftsaufnahmen hatte, die ich nie zu Bildern verarbeitet habe, weil es mir zu banal gewesen wäre, einfach eine Landschaft hinzuhängen. Aber es war ja die Zeit, wo man sich an die Reisen nur noch erinnern konnte, man konnte keine neuen Reisen mehr unternehmen, 2020. Da habe ich versucht, durch die Vermalung der Bilder meine Erinnerungen sichtbar zu machen. Im Bild verschwindet nun das Foto, kommt wieder ein Stück weit nach vorne und materialisiert sich wieder. Dann ist es im Bild plötzlich, wie eine Erscheinung, noch da. Und es sind quasi gar keine objektiven Bilder der Realität mehr, sondern es sind Ausschnitte von dem, was ich gesehen habe. Bilder verblassender Erinnerungen.


Sie haben sich demnach wegbewegt vom reinen Abbilden zu einem Bilden. Ist damit das, was entstanden ist, Emotion?
Ja, natürlich hat das was mit Emotion zu tun. Diese Art der Erinnerung filtert heraus, was man gesehen haben will. Wenn man heute die Welt bereist und Dokumentationen sieht, habe ich das Gefühl, es ist nur noch eine Blickrichtung auf die Welt erlaubt, das ist diese apokalyptische Grundhaltung, dass alles nicht mehr lange da sein wird, alles kaputt geht. Natürlich ist es unheimlich wichtig, dass wir über Klimawandel reden, aber es ist nicht unbedingt erste Aufgabe der Kunst, ständig über die Apokalypse nachzudenken. Ich finde gerade wichtig, dass solche politischen Themen wie Klimawandel oder Militarisierung der Welt, die ich für ausgesprochen wichtig halte, eben mit Worten und Argumenten bearbeitet werden und nicht mit Kunst und nicht zu emotional, weil man dann schnell in eine populistische Ecke abgleitet. Und ich glaube, dass ich das Recht habe, die Welt nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihres nahenden Untergangs zu betrachten, sondern ich möchte, wenn ich reise, auch fasziniert sein und ich möchte in erster Linie staunen. Ich glaube, wenn eine Emotion drinsteckt, in meinen Bildern, dann ist es das Staunen, über das, was ist. Auch über das Verschwinden in meinen Bildern zu staunen und über das Erscheinen zu staunen, das ist, glaube ich, das, was ich möchte. 


Glauben Sie, dass Menschen generell zu emotional sind?
Erstmal glaube ich nicht, dass Menschen zu wenig oder zu viel emotional sind. Die Ratio hebt uns von der Tierwelt ab, das ist schon sehr wichtig. Wichtig wäre mir, dass wir es besser trennen. Wir haben gerade im Wahlkampf in den USA erlebt, dass so eine starke Emotionalisierung nicht zu einer Verbesserung der politischen Diskussion führt oder zu einer besseren Abwägung der Argumente. Aber das wäre ja der Sinn der Ratio. 


Während die Emotionalisierung mich in anderen Bereichen der Gesellschaft eben überhaupt nicht stört. Im Gegenteil. Ich möchte ein Musikkonzert so erleben, dass es möglichst viele Emotionen erzeugt und niemand verlangt von der Musik, dass sie Klimawandel oder sonst was thematisiert. Ich finde, dass auch die Kunst wieder breiter werden muss. Sie ist in die Sklaverei der Soziologen geraten und das finde ich ein bisschen schade. Wenn man die großen Ausstellungen der letzten Jahre sieht –Biennale, Documenta – hat man das Gefühl, es gibt nur ein Thema, Kolonialismus und all das. Natürlich sind das wichtige Themen, über die man übrigens sehr gut streiten kann, weil der Kolonialismus ja auch nicht der Urknall der Geschichte war. Da schwingt so ein Bild vom edlen Wilden mit, was mich an ein Kunstverständnis des 18. Jahrhunderts erinnert. Aber ich finde, dass wir auch wieder zulassen müssen, dass die Kunst wieder breiter wird, in der Thematik. Und nicht jedes Werk muss alles widerspiegeln, und vor allen Dingen muss sich das Werk nicht in die Hand der Ideologen begeben. 

Sie scheuen sich nicht, ernste Themen humorvoll anzugehen. Gab es je eine Emotion, die Sie wirklich sprachlos gemacht hat, oder kann man im Notfall auch einfach stumm mit den Augen rollen?
Habe ich gelernt, das stumm mit den Augen rollen. Am Anfang war das schon schwieriger. Ich war das nicht gewöhnt. 20 Jahre lang war ich auf der Bühne und habe eigentlich wenig Gegenwind bekommen. Dann habe ich diese Sendung übernommen, im Ersten, und dann wurde es immer ein bisschen politischer. Und plötzlich kamen Leute auf einen zu und sagten einem, dass sie einen umbringen möchten, weil man was Falsches gesagt hat. Oder dass ich mal richtig auf die Fresse bekommen sollte, wo man denkt, das ist jetzt kein gutes Argument, das mich überzeugt.

Sagen wir mal so: die Auseinandersetzung ist, glaube ich, insgesamt in der Gesellschaft unerfreulicher geworden. Die Bereitschaft, abweichende Meinungen mal als Bereicherung anzusehen oder auch einfach abzulehnen und zu sagen, ich sehe das anders, hat abgenommen. Aber ich glaube, bei den meisten Problemen sind mehrere Sichtweisen möglich. Und wenn man das verlernt, dann ist demokratische Gesellschaft nicht mehr möglich. Ich fürchte auf diesem Weg sind wir. 

Denken Sie, dass es weniger Konflikte auf der Welt gäbe, wenn wir ein bisschen mehr trockenen Humor und weniger Zorn hätten?
Konjunktivische Dinge sind immer schwer zu beurteilen. Also, ein bisschen Sarkasmus, ein bisschen Humor, könnten nicht schaden. Gerade bei denen, die die Welt gerne mit dem Panzer, mit dem Sprengstoffgürtel oder mit der Flinte, mit der Kalaschnikow ändern würden, wäre natürlich Humor wünschenswert. Aber ich glaube ernsthaft, wenn man erst einmal mit der Kalaschnikow gewohnt ist, durchs Leben zu gehen, dass es dann mit dem Humorerlernen auch wahrscheinlich zu spät ist. 

Glauben Sie, dass andere Kulturen vielleicht generell nicht so humorvoll sind?
Ja, das glaube ich auch, ehrlich gesagt. Ich denke, im Westen ist das anders. Zum Humor gehört eine Spur Freiheit und die haben wir halt nur im Westen. Ansonsten nirgendwo auf der Welt.


Vielen Dank, lieber Dieter Nuhr, für das Interview und dann schlendern wir jetzt gespannt durch die Ausstellung: Dieter Nuhr – Woanders ist überall


Wer Dieter Nuhr nur als satirischen Sprachkünstler kennt, wird bei „Woanders ist überall“ staunen. Der Ausstellungstitel ist dabei mehr als nur ein cleverer Spruch: Er ist Nuhrs künstlerisches Mantra. Bevor Nuhr Deutschlands Bühnen mit scharfsinniger Satire eroberte, hatte er längst seine eigentliche Leidenschaft entdeckt – die Kunst. Sein Blick auf die Welt, geprägt vom Ruhrgebiet und inspiriert von den Geschichten, die die Region formt, ist seit Jahrzehnten sein persönliches Ausdrucksmittel.

Als gebürtiges Kind des Ruhrgebiets entdeckt Nuhr überall dort, wo andere nur graue Industrie und verborgene Winkel sehen, den Reiz des Unauffälligen. Ein wiederkehrendes Motiv seiner Werke sind Brücken – Strukturen, die sinnbildlich für Begegnungen, Übergänge und die Verbindung von Fremdem und Vertrautem stehen. Auf seinen Reisen, ob im Ruhrgebiet oder im Senegal, hält er diese Brücken und Landschaften fotografisch fest und verfremdet sie so, dass sie auf rätselhafte Weise ihre Eindeutigkeit verlieren. Mit geübtem Auge und feinem Gespür für das Besondere entstehen daraus digitale Kunstwerke, die uns träumend zurücklassen – sie rücken Fremdes und Vertrautes zugleich in ungewohnte Nähe. Es ist ein Spiel mit unserer Wahrnehmung, das er sich längst zur Königsdisziplin gemacht hat.

Die Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum in München ist die zweite Station einer international beachteten Tournee, die bis 2028 läuft und unter anderem nach Havanna führt. Dirk Geuer, Kurator der Association for Art in Public, beschreibt Nuhrs unverwechselbare Methode als die Gabe, Vertrautes und Fremdes in fesselnde Dialoge zu verwandeln. Und Prof. Bodo Hombach, Vorsitzender der Brost-Stiftung, bringt es auf den Punkt: „Nuhrs Werk gleicht einer „Expedition ins Landesinnere“ – in die seelischen und historischen Tiefen seiner eigenen Welt. Dieter Nuhr erkundet das Ruhrgebiet unter historischer Perspektive. Aber – und das ist subjektive Wahrnehmung – es geht nicht um Dokumentation oder Feststellung. Es geht um Kraftfelder und Prägendes. Die identifizierbaren Metaphern heißen Brücke und Begegnung.“ 


„Dieter Nuhr hat sich als multimedialer Künstler neben seiner Karriere als Kabarettist etabliert. Sein beeindruckendes Oeuvre, weltweit in renommierten Museen und Galerien ausgestellt, spiegelt seine tiefe Verbundenheit mit dem Ruhrgebiet sowie seine Reisen in entlegene Winkel der Welt wider. Die Ausstellung „Woanders ist überall“ im Bayerischen Nationalmuseum zeigt Nuhrs einzigartige Fähigkeit, Vertrautes und Fremdes in faszinierenden Dialog zu setzen.“, kommentiert Dirk Geuer, Kurator der Association for Art in Public die Ausstellung, die nur einen kleinen Teil des ernormen Schaffens von Dieter Nuhr abbildet.

 

Dieter Nuhr. Geboren 1960 und studierter Maler. Er zeigt, dass sein Humor keineswegs sein einziger Geniestreich ist. Seine künstlerische Karriere startete er lange, bevor er Satire machte. Mit seinen neuesten Arbeiten, die ihm weltweite Anerkennung einbrachten – darunter Einzelausstellungen in Rom, Wien und Dakar – beweist Nuhr, dass er einen unverwechselbaren Stil geschaffen hat. Er ist ein Künstler, der an seinen Wurzeln festhält, während er die ganze Welt zu seiner Bühne macht. 


Die Brost-Stiftung, 2011 in Essen gegründet, lebt den testamentarischen Wunsch von Anneliese Brost, einer Frau, die schon zu Lebzeiten für ihr außergewöhnliches soziales Engagement gefeiert wurde. Ihr Erbe? Die Stiftung fördert Projekte, die Kunst und Kultur, Jugend- und Altenhilfe sowie Bildungs- und Gesundheitsinitiativen in der Region stärken. Im Herzen des Ruhrgebiets verwurzelt, setzt die Brost-Stiftung auf Zusammenarbeit und innovative Ansätze, um das Miteinander und die Identität dieser vielfältigen Region zu fördern. Seit 2022 unterstützt die Stiftung den multimedialen Künstler Dieter Nuhr, und gemeinsam mit der Association for Art in Public hat sie die erfolgreiche Wanderausstellung „Von Fernen umgeben“ auf die Beine gestellt. Diese Tournee begeisterte über 60.000 Besucher in Europa und Afrika und zeigt, wie Kunst Menschen zusammenbringen kann.


Die Brost-Stiftung ist mehr als nur ein Förderer – sie ist ein Impulsgeber für Kreativität und soziale Projekte im Ruhrgebiet. Entdecken Sie mehr über ihr Engagement auf
www.broststiftung.ruhr.

Und mehr zu Dieter Nuhr unter www.dieternuhr.de 

 

Bild oben: Deutschland Ruhr 04, 2024, 
Digitale Malerei, Fotografie, Acryl, Lack 
auf Leinwand, 200 x 300 cm

 

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